Rot: Bildschirmmodus. Ändern durch Click
Gäubahn
und S21
Gäubahn und S21

(10.02.2020) Der Landkreis Böblingen befürchtet seine verkehrstechnische  Abhängung von Stuttgart durch die Stillegung der Gäubahn.

Gäubahn und Stuttgart 21 sind nicht zu trennen. Deshalb vorab eine stark verkürzte Beschreibung des Komplexes S21. Die zugehörige Grafik:hier (Quelle: Wikipedia).


Stuttgart 21/ S21

S21 ist ein Städtebauprojekt. Es geht einzig um neues Bauland in Stuttgarts Zentrum. Deshalb wird zukünftig das oberirdische Gleisfeld (17 Gleise) abgebaut und als Bauland "ertüchtigt". Die Bahn muss  unter die Erde. Tunnels sind teuer, also werden Tunnelstrecken minimiert, deshalb die Reduzierung von 17 auf 8 Gleise. Das geht nur mit einem Durchgangsbahnhof. Die Querlegung zum bestehenden Gleisfeld hat rein technische Gründe: das Gleisfeld muss bis Bauende erhalten bleiben, es wurde nach Norden vom Bahnhof weg verschoben, um für die Tiefbauarbeiten am Bahnhof Platz zu machen.

Dem Volk wurde der Tiefbahnhof und seine Querlegung mit vier Argumenten "verkauft":

1. Eine schnellere  Bahnanbindung nach Ulm über den Flughafen. Die neue Trasse über die Alb sei "integraler Bestandteil von S21".

2. Die sogenannte "Magistrale Paris - Bratislava".

Beides wäre auch mit dem bestehenden oberirdischen Kopfbahnhof möglich. Die "Magistrale" ist darüberhinaus ein reiner Kunstbegriff, der einer Ost-West-Bahnstrecke eine herausragende Bedeutung andichten soll (die darüberhinaus nur für den Personenverkehr relevant wäre, da Güterverkehr durch den Tiefbahnhof nicht möglich ist.).

3. Kapazitätssteigerung, bewirkt durch den Durchgangsbahnhof.
Das ist inzwischen widerlegt, wenn auch von der Bahn nicht zugegeben.

4. Ein paar Fahrzeitverkürzungen, z. B. von und nach Ulm. Der einzige plausible Grund.
Ob das die  jahrelange Beeinträchtigung des Stuttgarter Raumes durch die Bautätigkeiten, die massiven Störungen im gesamten Bahnbetrieb und im ÖPNV rund um Stuttgart, und die ins Uferlose steigenden Kosten rechtfertigt? Und die Verlegung der Gäubahn bedeutet für Fernreisende aus Süden eine Fahrzeitverlängerung. Überhaupt nicht ins Kalkül kommen die komplizierten Umsteige-Wege innerhalb des Tiefbahnhofes. Im Gegensatz zum Kopfbahnhof-Konzept müssen im Durchgangsbahnhof Gleise überquert werden, mit Brücken, (Roll-)Treppen und Aufzügen..

Die Volksabstimmung war keine Abstimmung über S21, sondern nur über die finanzielle Beteiligung des Landes. Auch wenn die Beteiligung abgelehnt worden wäre, hieße das nicht, dass S21 gestoppt würde. Eine Frage wie "Sind Sie für oder gegen Stuttgart 21?" war verfassungsrechtlich nicht möglich. Auch hatte das Projekt schon baurechtlichen Bestandsschutz, weil es legal von den zuständigen politischen Institutionen beschlossen wurde und die ersten Baumaßnahmen schon erfolgt waren. Im Abstimmungstext wurde S21 schöngeredet. Planungsfehler wurden verschwiegen. Es wurde behauptet, die neue Bahntrasse nach Ulm sei ohne S21 nicht möglich - das war eine eindeutige Lüge. Fast genau ein Jahr nach der Abstimmung erhöhte die Bahn ihre Kostenschätzung auf beinahe das Doppelte. Dass die Zahlen auch bewusst irreführend, nicht allein dilettantische Planung waren, ist zu vermuten.

Die aktuelle Sachlage ist sattsam bekannt - zumindest den Fahrgästen der Stuttgarter S-Bahnen und Regionalzüge, die den täglichen Horror plötzlicher Fahrplanänderungen, Verspätungen und Ausfälle erdulden, Tendenz steigend bis Fertigstellung aller Bauarbeiten. Wenn die Nachbesserungen und Pannen der verhunzten S21-Planung so weitergehen, rechnen Optimisten mit Bauende 2025, Pessimisten mit Bauende frühestens 2027 und Gesamtkosten von 15 Milliarden (bisher hatten die Pessimisten fast immer recht). Nicht eingerechnet ist der sekundäre finanzielle Verlust der Stadt Stuttgart durch schleichende Abwanderung von Industrie, Handel und Gewerbe - wer möchte schon in einer Firma arbeiten, wo der Weg zum Arbeitsplatz die Freizeit auffrisst. Aktuell befürchtet der Landkreis Böblingen die zukünftige verkehrstechnische Isolierung vom Großraum Stuttgart, dazu mehr im nächsten Kapitel "Die Gäubahn":


Die Gäubahn

"Gäubahn" ist die Bezeichnung für eine Bahnstrecke von der Schweiz durch das "Gäu" bis Stuttgart. Sie ist die einzige Trasse für Regional- und Fernzüge aus Süden nach Stuttgart. Die schweizerischen SSB-Züge bedienen regelmäßig diese Strecke und sind wichtige Ergänzung zu den DB-eigenen Zügen. Zwischen Vaihingen und Stuttgart-Hauptbahnhof verläuft die Gäubahn als "Panoramabahn" oberirdisch weitgehend parallel zur unterirdischen S-Bahn-Strecke. Damit ist die Panoramabahn unverzichtbare Ersatzstrecke für die S-Bahn, wenn der S-Bahn-Tunnel zwischen Universität Vaihingen und Hauptbahnhof blockiert ist.  

Es ist geplant, die Panoramabahn zwischen Rohr und Stuttgart-Hauptbahnhof nach Fertigstellung des S21-Tiefbahnhofes abzubauen, um die freiwerdende Gleisfläche als Bauland zu gewinnen (beste Hanglage in Stuttgarter Talkessel!). Die Züge aus Süden sollen dann ab Rohr  (neu zu bauende "Rohrer Kurve") über die vorhandenen S-Bahn-Gleise zum Flughafen fahren und dann weiter zum Stuttgarter Tiefbahnhof - durch einen 10 km langen Tunnel. Somit wäre Stuttgart bahntechnisch praktisch nur noch über Tunnels zu erreichen.

Die Planungen für diese neue Bahnanbindung aus Süden sind gerade am Anfang. Es gibt noch kein schlüssiges Konzept für den neu zu bauenden Flughafen-Bahnhof und seine Anbindung an das Flughafen-Terminal und die S-Bahn. Die stark frequentierte zweigleisige S-Bahn-Trasse zwischen Rohr und Flughafen und darüberhinaus bedient die Gemeinden auf den Fildern und wäre mit dem Mischbetrieb aus S-Bahnen, Regional- und Fernzügen total überlastet. Man muss folglich zwei weitere Gleise parallel zur S-Bahn-Trasse bauen - durch dicht besiedeltes Gebiet.

Die Folge: Die alternative Gäubahn-Strecke über den Flughafen wird erst mehrere Jahre nach Fertigstellung des Stuttgarter Tiefbahnhofes fertig sein.

Die resultierende Katastrophe: 2025 geht der Tiefbahnhof in Betrieb (so die aktuelle Planung). Das alte Gleisfeld, über das auch die Panoramabahn führt, wird abgebaut. Die neue Trasse über den Flughafen für die Züge aus Süden ist höchstwahrscheinlich erst 2030 fertig. 5 Jahre lang müssen die Fernreisenden kurz vor Stuttgart in eine Tunnel-geführte S-Bahn umsteigen - mit Gepäck! - , die heute schon ihre Kapazitätsgrenzen überschritten hat.


Die Folgen für den Landkreis Böblingen und für Herrenberg

Der Landkreis Böblingen befürchtet die verkehrstechnische Abhängung vom Stuttgarter Raum. In den nächsten Jahren ist eine Ertüchtigung der Autobahn A81 geplant (6 Spuren, Überdeckelung zwischen Böblingen und Sindelfingen); zwischen Herrenberg und Stuttgarter Kreuz geht dann nichts mehr. Die Bürgermeister des Kreises Böblingen haben dazu einen Brandbrief geschrieben. Der Inhalt lautet sinngemäß:

Mit Sorge sehen wir die Entwicklungen an unserer Bahn- und Autobahninfrastruktur. Wir befürchten, dass es einen Verkehrsinfarkt gibt, wenn die A81 ausgebaut wird und gleichzeitig im Zuge der S21-Bauarbeiten die Gäubahn gekappt wird und in Vaihingen endet. Außerdem wird die von der Gäubahn genutzte Panoramastrecke bei Störfällen auch als Umleitung für die S-Bahn-Linien S1, S2 und S3 genutzt. Bei laut Bahn etwa 200 Umleitungsfällen pro Jahr trifft das auch die 40.000 S-Bahn-Pendler zwischen Vaihingen und Stuttgart massiv. Wir erwarten nun eine Stellungnahme des Verkehrsministeriums, wie eine Interimslösung geschaffen werden kann, welche die Unterbrechung der Schienenstrecke zwischen Vaihingen und dem Stuttgarter Hauptbahnhof möglichst kurz hält.

Nebenbei: Vor Jahren waren die Böblinger Landräte begeistert, durch die neue Gäubahn-Führung eine direkte Anbindung an den Stuttgarter Flughafen zu bekommen. Die FSG (Flughafen Stuttgart GmbH) war von Anfang an bei der Planung zu S21 dabei. Eigentümer der FSG sind das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart.


Welche Alternativen zur Stillegung der Panoramabahn gibt es?

Zunächst keine. Das Gleisgebiet der Gäubahn/Panoramabahn zwischen Vaihingen und Hauptbahnhof gehört inzwischen der Stadt Stuttgart und ist als lukratives Bauland verplant. So argumentiert der Stuttgarter Gemeinderat.

Inzwischen verdichten sich die Hinweise, dass die Gäubahn/Panoramabahn zumindest wegen ihrer Entlastungsfunktion für die S-Bahn erhalten bleibt. Die Angst vor einer Blockade des gesamten Zugbetriebes aus Süden bei Havarien in den Tunnelröhren ist zu groß. Und insgeheim befürchten auch die konservativsten S21-Befürworter Kapazitätsengpässe im S21-Konzept.

Das Problem ist die Anbindung der Gäubahn/Panoramabahn an den Tiefbahnhof.

Ein weiterer Tunnel wird als zu teuer verworfen. Allein die Planungsmodalitäten würden die Fertigstellung des Tiefbahnhofes verzögern.

Im Gespräch ist die sogenannte Nordkreuz-Option. Das sogenannte "Nordkreuz" stellt eine Erweiterungsoption für das Projekt Stuttgart 21 dar für den Fall, dass zukünftig mehr Züge fahren als heute angenommen. Die Planungen stammen aus dem Jahr 1999. Die Panoramabahn bliebe erhalten und bekäme einen Halt an der S-Bahn-Haltestelle Nordbahnhof. Von dort fahren die Fernreisenden per S-Bahn zum Tiefbahnhof. Umständlich wäre das zweimalige Umsteigen: Gäubahn - S-Bahn und S-Bahn - Tiefbahnhof.  Um die Panoramabahn ohne Unterbrechung nach dem Abbau des alten Kopfbahnhof-Gleisfeldes weiter zu betreiben, müsste mit dem Bau des "Nordkreuz" sofort begonnen werden.

Eine weitere Option ist, während des Abbaues des alten Gleisfeldes die Gäubahn über eine Behelfsbrücke in den alten Hauptbahnhof einzuschleusen. Das wird bisher als zu teuer abgelehnt, da die Brücke später wieder abgerissen wird.

Im Prinzip ist alles offen...


Link-Adressen zum Thema Gäubahn

Grafische Übrersicht über den Komplex Stuttgart 21

Brandbrief der Bürgermeister vom 14.10.2019

Vorlage im Kreistag zur Ablehnung der Gäubahn-Kappung

Stuttgarter Zeitung zum Bürgermeister-Brandbrief

Zur Nordkreuz-Option

Link-Adressen zu Stuttgart 21

Zum Tunnelbau und den Risiken

Geologie und Tunnelbau

Landeszentrale für Politische Bildung: Hervorragende ausführliche Abhandlung  über S21. Ohne Datum, vermutlich Ende 2011 vefasst, kurz nach der Volksabstimmung. Damals waren die Kosten noch mit 4,1 Millionen geplant.

Infobroschüre der Landesregierung zur damaligen Volksabstimmung

Kritische Website zur Volksabstimmung

Historie von Stutgart 21

Das hat Kult-Status! Die Comedytruppe "Die Anstalt" behandelte das Thema S21 auf ihre Weise. Video, ca 50 Minuten. Absolut sehenswert! Das Video kann dort für den Privatgebrauch auch heruntergeladen werden. Und hier ist der Faktencheck dazu mit vielen Quellen.

Und wer noch nicht genug hat: Chronologie der Pannen


Zurück



Site Map     Impressum    Datenschutz

Powered by ProcessWire Open Source CMS/CMF