Inhalt:
Einleitung
Bildergalerie
Was versteht man unter Schutzstreifen?
Beurteilung
Akzeptanz durch eine positive Sichtweise
(03.12.2020) Herrenberg ist eine von fünf Kommunen, die vom Bundesverkehrsministerium zur "Modellstadt Saubere Luft" ernannt wurden. Knapp 4 Millionen Euro Fördergelder müssen bis Ende 2020 sinnvoll eingesetzt werden, um den NOx-Ausstoß in der Herrenberger Innenstadt zu verringern. Zu den Maßnahmen gehören auch die Radschutzstreifen entlang der Hindenburgstraße.
Wir zitieren aus der Gemeinderats-Vorlage DRUCKSACHE-NR 2019-155 von 11. 07. 2019 "Modellstadt Herrenberg - Bauliche und verkehrliche Anpassungen in der Hindenburg- und Horber Straße" :
(...) Durchgängige Radfahr- bzw. Schutzstreifen auf beiden Seiten der Hindenburg- und Horber Straße stärken die Durchgängigkeit und Sicherheit des Radverkehrsnetzes." (...) Auf der B 296 (Tübinger Straße–Hasenplatz–Hindenburgstraße) zwischen der Einmündung Hildrizhauser Straße und dem Reinhold-Schick-Platz wird eine beidseitig durchgängige Radwegverbindung mit vornehmlich Schutzstreifen und Aufstellflächen für Radfahrer an den Signalanlagen geschaffen(...)
Mehr Infos zur Modellstadt hier
Zu den Begriffen Sicherheit und Durchgängigkeit lassen wir die folgenden Bilder sprechen.
Alle Fotos wurden am 31. 10. 2020 gegen Mittag aufgenommen.
Wir starten an der Einmündung der Hildrizhauser Straße in die Hindenburgstraße und fahren zum Reinhold-Schick-Platz.
Ecke Hidrizhauser Straße - Hindenburgstraße
Desgleichen
Weiter zur Tübinger Straße (rechts hinten)
und weiter zur Moltkestraße (links vor der Volksbank)
Kurz vor dem Reinhold-Schick-Platz
Auf der anderen Seite zurück Richtung Tübingen
Am Sanitätshaus Schaible
Fußnote: Die Schutzstreifen befinden sich im endgültigen Zustand, auch wenn es nicht so aussieht.
Schutzstreifen (für Radfahrer): sind durch gestrichelte Linien kenntlich gemacht und können vom Kfz-Verkehr überfahren werden (wie der gestrichelte Mittelstreifen). Der markierte Straßenteil gehört zur Fahrbahn und es gelten die Abstände für’s Überholen (mindestens 1,50 m). Es handelt sich nicht um einen Radweg.
Radfahrstreifen: sind durch durchgezogene Linien von der Fahrbahn abgetrennt und dürfen vom Kfz-Verkehr nicht überfahren werden (wie der durchgezogene Mittelstreifen). Der abgetrennte Teil gehört nicht zur Fahrbahn und ist demgemäß ein Sonderweg für den Radverkehr. Auch wenn das Passieren eines Radfahrers nicht als Überholvorgang gilt, muss der Mindestabstand eingehalten werden.
Mehr unter www.adfc.de/artikel/schutzstreifen-und-radfahrstreifen
Nach § 42 Abs. 6 Nr. 1 g StVO dürfen andere Fahrzeuge ( d.h. Kfz) Schutzstreifen nur bei Bedarf überfahren. Es handelt sich bei Schutzstreifen nicht um Radwege und auch nicht um Sonderwege (man spricht dabei von Angebotsstreifen). Es ist gesetzlich nicht bestimmt, dass ein solcher Schutzstreifen benutzt werden muss. Es besteht für Radfahrer keine Pflicht, nur innerhalb der Linien des Schutzstreifens zu fahren (siehe Beschl. OVG Lüneburg vom 25.7.2018- Az 12 LL 150/16). Allerdings gibt es auch für Radfahrer das Rechtsfahrgebot, was eine Nutzung des Schutzstreifens fast unausweichlich macht. Wenn Radfahrer z.B. von der Hindenburg- zur Nagolder Straße fahren wollen *), sind sie daher nicht verpflichtet, am Reinhold-Schick-Platz auf den Gehweg zu fahren und die Fußgängerampel zu benutzen. Sie können sich auch vor der Ampelanlage vom Schutzstreifen lösen und auf die Fahrbahn in Richtung Nagolder Str. wechseln, und auf der Fahrbahn auch bleiben und diese benutzen.
*) Fußnote: Der Schutzstreifen verläuft am Schick-Platz von der Hindenburgstraße nach rechts in die Seestraße. Für die "ängstlichen Radler", die geradeaus weiterfahren wollen, heißt das: kurz vor der Seestraße auf den Gehweg ausweichen, die Seestraße an der Fußgängerampel überqueren und auf dem Gehweg entlang der Nagolder Straße weiterfahren. Dieser Gehweg ist für Radler freigegeben, aber unter der Bahnüberführung sehr schmal.
In den meisten Publikationen werden Schutzstreifen als zulässig beschrieben, wenn die Verkehrsdichte 10 000 KFZ / 24h nicht überschreitet. Auf der Hindenburgstraße wurde im Jahr 2016 eine Verkehrsdichte von abschnittsweise 25 000 KFZ / 24h gemessen und dokumentiert (Quelle: Integrierter Mobilitätsentwicklungsplan (IMEP) 2030, Kurzfassung, Seite 37).
Das folgende Diagramm aus dem ERA führt zusätzlich den Parameter Geschwindigkeit ein:
Bildquelle: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
Führungsformen des Radverkehrs
Achtung: Die y-Achse stellt die Verkehrsdichte in der Spitzenstunde dar. Demnach wären Schutzstreifen gerade noch zulässig bei Tempo 50 kombiniert mit einer Verkehrsdichte von 1000 KFZ / h in der Rush Hour. In der Hindenburgstraße würde dieser Wert für die Verkehrsdichte in der Rush Hour vermutlich mehrfach überschritten, hat sie doch schon im Schnitt eine Belastung von etwas über 1000 KFZ / h.
Dort wo die Fahrbahn zu schmal ist für einen Schutzstreifen, wurde die unterbrochene weiße Linie des Schutzstreifens weggelassen, aber die Piktogramm-Reihe wurde weitergeführt. Ob das rechtlich oder gesetzlich abgedeckt ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Bisher ergab unsere Internet-Recherche keinen Hinweis auf eine Existenz derartiger "verstümmelter" Schutzstreifen in anderen Kommunen. Auf jeden Fall widersprechen diese Markierungen dem Gebot klarer und eindeutiger Verkehrssignalisierung.
Bei den umstrittenen Kurzzeit-Parkplätzen zum Be- und Entladen am Sanitätshaus Schaible ist die Unterbrechung des Schutzstreifens statthaft. In den "Musterlösungen Radnetz" (Download hier) ist dieser Fall für eine Bushaltestelle gezeigt:
Für den Radler ist es klar erkennbar, dass bedarfsweise Busse halten können. Auf der Hindenburgstraße wäre analog eine deutliche Markierung der Kurzzeit-Parkplätze auf der Fahrbahn nötig!
Der Bogen um die Bushaltestelle kurz vor dem Schick-Platz ist zulässig. Die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestmaße für die Kombination Schutzstreifen - KFZ-Bereich wurden eingehalten.
Eine regelkonforme Ausführung von Schutzstreifen sagt nichts aus über die letztendliche Akzeptanz durch die Radfahrer. Bisher hörten wir fast nur negative Meinungsäußerungen über die Schutzstreifen in der Hindenburgstraße. Das Radfahren entlang der Hindenburgstraße ist schlicht stressig. Die Enge, der hohe Verkehr, häufige LKWs und besonders abends und nachts hohe Fahrtempi der Autos ängstigen die Radler. Die Schutzstreifen verstärken das Gefühl, "an den Rand gedrängt zu werden".
Um den Sicherheitsabstand beim Überholen von Radlern (1,50 Meter) einzuhalten, müssen die KFZ auf die Gegenspur ausweichen. Einige Abschnitte sind so eng, dass die KFZ hinter den Radlern herfahren müssen.
Wenn Radler linksabbiegen wollen, müssen sie den Schutzstreifen verlassen und auf den KFZ-Bereich wechseln. Wir befürchten, dass manche Autofahrer aus Unkenntnis den Schutzstreifen als benutzungspflichtigen Fahrradstreifen interpretieren und auf Radler im KFZ-Bereich aggressiv reagieren.
Eine extrem kritische Stelle befindet sich kurz vor dem Schick-Platz. Der Schutzstreifen wird dort nach rechts in die Seestraße geführt. Geradeaus in die Nagolder Straße kommt man offiziell nur, indem man kurz vor der Seestraße auf den Gehweg ausweicht, die Seestraße über die Fußgängerampel überquert und weiter entlang der Nagolder Straße auf dem Gehweg (Radfahrer frei) fährt. Diese Engstelle ist seit Jahrzehnten ein ungelöster Problemfall für Radler von und nach Westen. "Mutige Radler" überqueren den Schick-Platz auf der KFZ-Fahrbahn. Um sich geradeaus an der KFZ-Ampel einzuordnen, müssen sie rechtzeitig den wegen Umkurvung der Bushaltestelle deutlich rot markierten Schutzstreifen verlassen - gerade hier könnten Autofahrer irritiert reagieren! Ein über eine längere Strecke rot markierter Schutzstreifen kann mit einem benutzungspflichtigen Fahrradstreifen verwechselt werden!
Eltern verbieten ihren Kindern die Benutzung der Schutzstreifen. Wir beobachten verstärkt Radler, die auf die Gehwege ausweichen.
Das Ziel der Modellstadt, mehr Menschen zum Radfahren zu bewegen, wird so nicht erreicht werden.
Wir befürchten, dass mit dem Bau der Schutzstreifen an der Hindenburgstraße bessere Alternativen für Radverbindunen aus östlicher Richtung in die Kernstadt nicht mehr verfolgt werden, z. B. ein markierter Radweg durch den Graben.
Ab frühestens Mitte 2021 soll eine "Intelligente Ampelsteuerung" die jetzige Tempo-50-Regelung ablösen. Abhängig vom Verkehrsaufkommen wird das Fahrtempo zwischen 20 und 40 km/h gesteuert und der Verkehr mit "grünen Wellen" flüssig durch die Innenstadt geleitet. Bis dahin gilt weiterhin Tempo 50.
Unsere autogerechten Städte, eine aus dem Jahr 1934 stammende Straßenverkehrsordnung (StVO), der stetig wachsende LKW-Verkehr, und eine Verkehrspolitik, die schwere, schnelle und starke PKW fördert - das alles kann nicht von heute auf morgen auf den Kopf gestellt werden. Die Elektromobilität wird definitiv keinen Beitrag zur Reduzierung des MIV leisten - im Gegenteil, wir befürchten noch mehr Verkehr durch den Rebound-Effekt.
Das Fahrrad kann nur überleben, wenn seine Verbände permanent Druck auf die kommunalen Verwaltungen vor Ort ausüben. Wobei die Kommunen sehr wohl gewillt sind, mehr Fahrrad auf die Straßen zu bringen; allein es fehlen meist die "Human Reasurces" in den Verwaltungen, und der Mut, sich mit der seit Jahrzehnten herangezogenen Auto-Lobby anzulegen. Zugegeben: die Verwaltungen sind hilflos, wenn ihnen Kreis, Land und Bund die Verkehrsplanung für ihre Ortsstraßen diktieren.
Den Schutzstreifen gingen lange Verhandlungen des ADFC mit der Verwaltung voraus. Die letztendlich schlechte Ausführung, an der der ADFC keine Schuld hat, enttäuscht natürlich alle, die echte durchgängige Schutzstreifen erwartet hatten. Der Verwaltung ist zum Vorwurf zu machen, den Bürger*innen die Hintergründe vorzuenthalten, warum auch immer. Oder meint sie, es sei nun Aufgabe des ADFC, die Gebrauchsanleitung für die Schutzstreifen-Torsi zu liefern? Mehr als "gefühlte Sicherheit für die mutigen Radler" kann der ADFC beim besten Willen nicht als Erklärung vorbringen.
Dabei ist die Sache doch ganz einfach, wenn man sich vom Anspruch löst, die Markierungen müssen "sichere Schutzstreifen" sein. Im Prinzip handelt es sich um eine durchgängige Reihe von Fahrrad-Piktogrammen auf der Fahrbahn. So wird den Autofahrern signalisiert, dass Herrenberg eine fahrradfreundliche Stadt ist. Die Autofahrer sind gewarnt und fahren vorsichtiger und rücksichtsvoller. Radfahrer*innen sind Teil des motorisierten Verkehrs. Die Schutzstreifen sind quasi verstärkte "Achtung Radfahrer"-Verkehrszeichen, folglich sind Diskussionen über Unterbrechungen und Halteverbote auf den Markierungen irrelevant. Erst wenn die Hindenburgstraße mit einem LKW-Durchfahrtverbot sowie mit Tempo 20 - 40 klassifiziert ist, kann man diskutieren, ob die Markierungen als "Schutzstreifen im Sinne der ERA, des VCD und des ADFC" aufgewertet werden.
Es ist sehr schwierig, im engen verkehrsreichen Herrenberg eine durchgängig sichere und bequeme Fahrrad-Infrastruktur aufzubauen. Wir haben keine Verhältnisse wie in Amsterdam oder Münster. Der Autofahrer muss lernen, dass er "seine" Straße bei engen Verhältnissen mit Radlern teilen muss. Nur massives flächendeckendes Signalisieren "Hier gibt es Radler" kann ihm auf die Sprünge helfen, wenn andere Maßnahmen wie Tempo 30 oder abgetrennte Radwege (noch) nicht möglich sind.
Vielleicht hilft diese Sichtweise, dass die Hindenburgstraße besser von den Radfahrer*innen angenommen wird.